MVP – Minimum Viable Produkt – ist ein spannender Ansatz, welcher in der Produktentwicklung die Chance auf schnelles Lernen dramatisch erhöht und zeitgleich die Chance des absoluten Scheiterns drastisch reduziert. In diesem Artikel beschreibe ich, wie wir den Ansatz für unseren eigenen Internetauftritt anwenden und welche Erfahrungen wir dabei gemacht haben.

 

Unsicherheit ist ein mächtiger Trigger

Wenn wir in einer komplexen Welt vor neuen Herausforderungen stehen, dann überfordert uns mitunter die Vielzahl an Möglichkeiten, die sich uns bietet. Das Erstellen einer Unternehmenswebseite gehört wohl inzwischen dazu. Zumindest hatten wir selbst dieses Gefühl und bei unserer eigenen Webseite sofort unzählige Fragen und nahezu keine Antworten:

Welche Inhalte wollen wir darstellen? – Was ist unsere Zielgruppe? – Wie wollen wir über Suchmaschinen gefunden werden? Welche Usecases gibt es? – Welches Technologie wollen wir einsetzen? – Wie stellen wir sicher, dass wir Rechtssicherheit haben? – Welches Layout wollen wir verwenden? – Wie können wir den Wartungsaufwand möglichst gering halten? Was kann da wohl alles schiefgehen? – Wollen wir wirklich so viel Zeit investieren? – …

 

Das Gefühl von Unsicherheit wird so immer größer

Tatsächlich haben wir uns selbst sogar kurz die Frage gestellt, ob wir das Thema nicht lieber noch ein bisschen liegen lassen. Braucht man heutzutage wirklich noch einen Webauftritt? Können wir das wirklich mit Gewissheit sagen? Wir gestehen: das Gefühl das wir hatten entstand in einer 15 minütigen Diskussion – bis einer von uns aufstand und ernsthaft fragte (ja, es wurde laut), ob das wirklich die Art von Herangehen ist, die wir als Komplexitäter an den Tag legen wollen. Natürlich nicht.

In der Tat waren wir selbst in das gewohnte Verhalten beim Umgang mit komplizierten Dingen gefallen: Ein Gefühl von Sicherheit gewinnen durch Analyse und Planung. Ganz offenbar war unsere Herausforderung nicht kompliziert. Sie war komplex.

 

Einfach machen – ein Experiment

Natürlich ist das von uns empfundene Gefühl von Unsicherheit in komplexen Umgebungen völlig normal. Niemand von uns war schon einmal in der gleichen Situation und tatsächlich gibt es inzwischen einen Berg an (Un)möglichkeiten in der weiten Welt des Internets.

Ein alternativer Umgang mit dieser Realität ist der ganz bewusste Wechsel vom Denken und Analysieren in das Handeln. Mit einem kleinen Unterschied in unserer Haltung: wir gehen ganz bewusst davon aus, dass wir Fehler machen werden. Wir lernen also möglichst schnell auf Basis realer Erfahrungen und passen uns dann wieder an. Oder kurz gesagt – werde ein Komplexitäter!

 

Eine der wesentlichen Lernerfahrungen im komplexen Umfeld

Es erfordert langes Training, seine Arbeitsweisen entsprechend anzupassen. Eines der Modelle, die hier hilfreich seien können ist der Ansatz des MVP also des Minimum Viable Product. Im Kern geht es nach unserer Auffassung darum, sich bei jeder Art von Veränderung (z.B. Produktitteration) zu fragen: Was ist die wesentlich Hypothese, die ich habe, auf Basis derer ich eine Anpassung vornehme? Und wie finde ich schnellstmöglich heraus, ob diese Hypothese tatsächlich valide ist? Hier ein Artikel (englisch), der dies sehr anschaulich beschreibt.

 

MVP oder Experiment: Ist klein wirklich klein genug?

Anstelle von MVP verwenden wir auch sehr gerne den Begriff des Experiments, da er klar aufzeigt, dass das Wiederlegen einer Hypothese genauso wertvoll ist, wie deren Bestätigung.

Gleichzeitig haben wir genau an diesem Punkt in der Praxis immer wieder gesehen wie schwer es Teams fällt, sich auf den wirklichen Wesenskern einer Idee zu beschränken und. Die Antwort oft: „Das geht nicht kleiner. Das ist schon das absolute Minimum an Umfang.“ Nun sind wir als Coaches nie die Experten für das inhaltliche Thema. Umso herausfordernder ist es daher oft, aus „Klein genug.“ ein „Ahh, doch so klein!“ zu machen. Zeit für uns also, einmal selbst diese Erfahrung in der Rolle des Umsetzungsteams zu machen.

 

Ab jetzt 6 Stunden bis Go-live

Startpunkt bei Null. Außer der Idee gab es noch nichts. Bis auf den festen Vorsatz: Wir gehen heute Abend auf jeden Fall live. Zeit bis zum Lauch: T minus 6 Stunden.

Im ersten Schritt haben wir nun zusammen ein mögliches MVP definiert. Erste Frage: Was ist eigentlich unsere Hypothese?

Schnell war uns klar: „Wenn wir möglichen Interessenten für unser Thema (seien es potentielle Kunden, Kollegen oder auch einfach Menschen aus unserem Unterstützernetzwerk) eine zentralen Ort der Information bieten, dann kann dies die Wahrscheinlichkeit erhöhen, gemeinsam ins Gespräch zu kommen?“ Natürlich können wir damit total falsch liegen. Lasst es uns also ausprobieren.

 

Das erste MVP
Erstes MVP unserer Webseite am Flipchart

Was braucht somit eine angemessene und möglichst schnell realisierbare Lösung? Am Flipchart haben wir unsere Anforderungen gesammelt:

  1. Wir als Menschen sind sichtbar und stellen uns vor
  2. Es wird erklärt, warum es uns als Komplexitäter gibt
  3. Der Besucher erfährt, wie wir in der Zusammenarbeit dieses “Warum?“ konkret umsetzen
  4. Wir erklären, was wir ganz konkret an Leistungen anbieten
  5. Man erfährt, wie man uns kontaktieren kann
  6. Wir wollen unseren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen
  7. Es ist  möglich, die Richtigkeit unserer Hypothese überprüfen zu können, indem wir das Ergebnis messen (z.B. Tracking)

Selbstverständlich hätten wir an dieser Stelle noch etliche weitere Ideen generieren können. In der Diskussion lässt sich die eigene Kreativität nicht so einfach bremsen. T minus 5 Stunden und 30 Minuten.

 

MVP: Es geht immer noch kleiner

Einer der Fragen, die uns an dieser Stelle geholfen hat: „Wenn wir X am Ende des Tages nicht umgesetzt haben, würden wir dann dennoch live gehen?“ Die Realität ist an dieser Stelle hart. Unser MVP:

  • Jedes Experiment braucht eine Auswertungsmöglichkeit, also Anforderung Nr. 7
  • Wir wollen mit unseren eigenen Werten im Einklang sein, also Anforderung Nr. 6
  • Unsere Hypothese wollen wir natürlich überprüfen können, also Anforderung Nr. 5 (damit man überhaupt mit uns ins Gespräch kommen kann)

Das ist es. Mehr nicht. Freie Wahl der Lösung und bis heute Abend sind wir mindestens mit diesem Funktionsumfang im Internet live. Darauf basierend haben wir kurz gemeinsam die nötigen Aufgaben definiert und dann losgelegt. T minus 5 Stunden.

 

Weniger Fragen mehr Antworten

Mit diesem klaren MVP Fokus hatten wir schnell den ersten Prototypen erstellt. Gleichzeitig tauchten nun Fragen auf, die wir uns vorher noch gar nicht gestellt hatten, z.B.: „Brauchen wir eine zentrale Telefonnummer?“ – „Ja.“ – „Wie setzen wir das um?“ – „Es gibt dafür Dienstleiser.“ – „Welchen nehmen wir?“ – „Den mit den besten Bewertungen und einer Testphase probieren wir einfach mal aus.“

T minus 3 Stunden. Kurzes Stand-Up Meeting: Was haben wir herausgefunden? Was brauchen wir jetzt noch, um sofort live gehen zu können? Wer setzt sich mit wem an welches Thema, um Blocker zu klären? An diesem Punkt waren wir kaum zu bremsen. Es lief! Als wir mit den Anforderungen Nr, 7, 6 und 5 durch waren, hatten wir plötzlich sogar noch die Zeit für Nr. 1. Und danach für Nr. 3 (wir haben uns kurzerhand entschieden, dafür als Lösung einen Blog zu erstellen – damit ihr zum Beispiel diesen Artikel lesen könnt).

 

T minus 0. Launch.

Tatsächlich waren wir am Ende des Tages mit einem ersten MVP live. Das Resultat hat uns sogar selbst überrascht. Wir hatten das so ja erst am Anfang des Tages vereinbart und das Ergebnis war für jeden von uns weit besser als erwartet. Ein sehr gutes Gefühl. Ich persönlich würde die 6 Stunden für mich so zusammenfassen: Aus dem Dickicht an Fragen und Möglichkeiten und dem Gefühl von Unsicherheit entsteht sehr schnell das Gefühl mit jeder tatsächlichen Aktivität zu wachsen. Und mit jedem Schritt, den man gegangen ist, gewinnt man an Sicherheit. Es ist klar, was hinter einem liegt. Und das Ziel wird langsam und immer deutlicher, sichtbar.

Unsere Empfehlung: Probiert es tatsächlich einfach selbst einmal aus. Im Kontext von Organisationsentwicklung kann dabei auch der Experimentansatz weiterhelfen. Welche Erfahrungen habt ihr beim Erstellen von MVPs gemacht? Hat es bei euch funktioniert und was waren die Stolpersteine? Hinterlasst hierzu gerne einen Kommentar.